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Vollständige Version anzeigen : Hin und her gerissen


Stephan
08.09.2003, 09:56
Hallo zusammen,


bin durch die Google-Eingabe "linkshänder" hier gelandet. Das meiste kann ich nachvollziehen. Habe mit meinen 42 Jahren schon etliche Psycho-Therapien hinter mir, die alle nichts (oder nur wenig) gebracht haben. Auch das Buch von Barbara Sattler habe ich vor ein paar Jahren gelesen. Dies hat mich damals eigentlich eher zurückgeworfen, da wirklich viel mit meinen persönlichen Erfahrungen übereinstimmte und mir drastisch vor Augen geführt wurde, dass ich eigentlich als krank zu gelten habe.

Jetzt nach einer weiteren (unnützen) Therapie habe ich mich an die Linkshändigkeit als mögliche Ursache meiner psychischen Probleme erinnert und möchte in diesem Zusammenhang an das Forum folgende Fragen richten:

Ist Frau Sattlers Theorie eigentlich (international) anerkannt, oder gibt es auch Gegenpositionen? Hat eine Rückschulung tatsächlich nachhaltige (bio-chemische) Folgen, oder ist es eher ein Placebo-Effekt, der auf einen späten Sieg der ursprünglich gewünschten Händigkeit basiert? Gibt es andere wirksame Therapien?

Ich weiß, vieles wurde schon beantwortet, aber es wäre trotzdem nett, wenn Ihr mir helfen könntet.


Danke

Stephan

Dr. Noll
08.09.2003, 13:23
>>>Ist Frau Sattlers Theorie eigentlich (international) anerkannt, oder gibt es auch Gegenpositionen?


Es ist die bislang größte Untersuchung weltweit, und die Auswertung ihrer Daten lässt keinen anderen Schluss zu. Dafür ist das Ergebnis zu eindeutig.

Mir liegen keine Gegenpositionen vor, und ich habe die Literatur und wissenschaftlichen Veröffentlichungen sehr intensiv nach durchforscht.

Eine neuere französische Arbeit zweifelt inzwischen an der Hirnseiten-Dominanz, aber ich habe die komplette Diskussion noch nicht vollständig zu lesen bekommen. Sollte sich etwas Neues zeigen, werde ich davon berichten.




>>>Hat eine Rückschulung tatsächlich nachhaltige (bio-chemische) Folgen, oder ist es eher ein Placebo-Effekt, der auf einen späten Sieg der ursprünglich gewünschten Händigkeit basiert?


Einen bio-chemischen Effekt konnte manbislang nicht nachweisen. Bioelektrische Phänomene kann man bei umgeschulten Gehirnen nachweisen(mittels PET-Technik =Positronen-Emissions-Tomographie, die die Hirnaktivitäten während eines gedanklichen Vorgangs zeigt).

Insgesamt gibt es aber über die Rückschulung viel zu wenig Daten, so dass eine wissenschaftlich fundierte Auswertung noch nicht vorliegt (Frau Dr. Sattler übrigens sammelt Rückschulungsdaten, hat aber noch nichts konkretes dazu veröffentlicht).

Insofern liegen betreffs der Rückschulung bisher nur subjektive Erfahrungen vor.




>>>Gibt es andere wirksame Therapien?

Hier müsste ich genauer wissen: Therapie für konkret welche Störung, die durch Umschulung entstanden ist. So lässt sich beispielsweise Stottern logopädisch behandeln; Lotteflue berichtet von homöopathischen Behandlungen, ebi denen allerdings ich mich nicht auskenne.

Eine kausale "Therapie" ist aber nicht bekannt, die die Umschulungsfolgen bei der Wurzel packt und heilt.

Das kann auch die Rückschulung nicht leisten, da iele gedankliche Vorgänge sozusagen "fest ins Gehirn eingebrannt" sind (sogenannte Engramme), die so einfach nicht mehr aufzubrechen und umzupolen sind.




Dr. Noll

Stephan
08.09.2003, 14:25
Erstmal vielen Dank Dr. Noll für die umfassende Antwort.


>Hier müsste ich genauer wissen: Therapie für konkret welche Störung, die durch Umschulung entstanden ist.


Ja, wenn ich das so genau wüsste: Es sind Störungen, die ich mir mittlerweile nur noch durch die damalige Umschulung erklären kann. Dazu gehören: Entscheidungsprobleme, auch bei Banalitäten; Vergesslichkeit; Extreme Konzentrationsprobleme; Denkblockaden; Sprechhemmungen, vor allem bei freier Rede und viele weitere für den Umschüler anscheinend typische Symptome.


Wenn für diese Symptome durch Rückschulung eine Besserung in Aussicht gestellt werden könnte, würde ich wohl keinen Moment zögern, diese in Angriff zu nehmen.

Ich kann der Theorie des "Knoten im Gehirn" zwar einiges abgewinnen, aber ich kann mir ehrlich gesagt nicht richtig vorstellen, dass durch eine Rückschulung mehr herauskommt, als eine Verschlimmbesserung.


Gruß

Stephan

Dr. Noll
08.09.2003, 17:56
Die genannten Störungen lassen sich gut mit einer Umschulung in früheren Jahren verbinden.

Eine Rückschulung kann, kann aber auch nicht diese Symptomatik verbessern.

Ein interessantes Kapitel wäre für Sie "Möglichkeiten und Gefahren der Rückschulung der Händigkeit", S. 145, aus "Der umgeschulte Linkshänder oder der Knoten im Gehirn" von Dr. Sattler.

Das dürfte einige Ihrer Fragen beantworten.


Dr. Noll

Holger
14.09.2003, 12:08
Hallo Stephan,


du schreibst mir aus dem Herzen !!

Deine Symptome decken sich ziemlich mit meinen Erfahrungen.

Was noch hinzu kommt ist Deine Verwirrtheit in Bezug auf die "Rückschulung".


Das kann ich sehr gut verstehen und habe die Problematik auch schon mehrmals versucht hier im Forum anzuspechen...

Denn: Wir leiden ja schon unter Entscheidungsproblemen,was soll also rauskommen

wenn wir noch mehr Chaos anrichten ??? (Und man uns das falsche Mittel an die Hand gibt).

Die Aussage von Dr. Noll : "ins Gehirn eingebrannte Bahnen....." beweist ja eigentlich, daß Du dann wieder brutal gegen diese Linien vorgehst, oder ?!


Ich habe übrigens, vor allem creative Sachen, nie mit rechts ausgeführt.

Eher schematische Tätigkeiten. Ich weiß nicht wie das bei Dir ist? Bist Du voll

auf rechts "gegangen" ? Oder auch "Wechsler"?

Ich nehme an Du musstest auch viele Dinge durch stupides üben automatisieren.




Und das ,glaube ich jedenfalls, kannst Du Dir so schnell nicht wieder ablernen!


was man hier braucht ist wohl eher ein "göttlicher Rat" !


Wäre schön noch was von Dir zu hören..




P.S.: Auf was hin bist Du eigentlich in der Psychotherapie behandelt worden: Psychose, Depression, Neurose ?


Gruß Holger:)

Heiße auch Stephan
16.09.2003, 22:48
Hi, ich heiße auch Stephan, bin auch 42 und habe auch einige frustrane Psychotherapieversuche hinter mir. Ich wollte anfangs nicht glauben, dass ich Linkshänder bin. Ich fange langsam an meine Händigkeit rückumzuschulen, was nicht so einfach ist und oft fehlt mir die Geduld. Die Ergebnisse sind allerdings verblüffend: Mit Links macht das Leben plötzlich Spaß - wenn es mir schlecht fange ich allerdings dann wieder an alles mit Rechts zu machen und in meine pseudorechtshändigen Gewohnheiten zurück zufallen. Hätte mir jemand noch vor 5 Jahren gesagt, ich sei Linkshänder, hätte ich geantwortet: Du spinnst ich bin absolut Rechtshänder - bis mich ein anderer darauf aufmerksam gemacht hat und es mir bewiesen hat. Ich wollte es anfangs nicht glauben, als ich dann das Buch von Frau Dr.Sattler gelesen habe, fiel es mir wie Schuppen von den Augen!!!

Schöner wäre es, wenn ich einen geeigneten Therapeuten fände, leider haben die meisten von Pseudorechtshändigkeit noch viel weniger Ahnung. Also muss ich alles als Autodidakt machen. Ich vertraue ganz auf meine Neuroplastizität und sehe die von Frau Dr. Sattler beschriebenen Symptome nicht so apodiktisch, hoffnungslos und pessimistisch. Obwohl ich seitdem ich mit meiner Rückumschulung begonnen habe mit meinen Emotionen manchmal ziemlich Schlitten fahre, geht es mir insgesamt besser und ich merke auch die Veränderungen an mir.

Das mit Linksschreiben wird noch etwas dauern, aber ich muss ja nicht in Rekordzeit lernen mit Links zuschreiben. Es lohnt sich auf jedenfall die Hoffnung nicht aufzugegeben und sein Schicksal selber in die (linke) Hand zu nehmen und das Leben einfach mit links zu meistern...

Mit Links sind meine Selbstzweifel weg, ich bekomme eine ganz andere innere Klarheit, ein ganz anderes Selbstwertgefühl - mit 42 links schreiben lernen, dass ein anderer mir erstmal nachmachen!

Und dass obwohl ich 42 Jahre absolut überzeugt war Rechtshänder zu sein.

Manchmal habe ich das Gefühl zwei Seelen wohnen in meinem Körper und es ist für mich auch eine Entdeckungsreise wer ich eigentlich wirklich bin. D.h. allerdings auch dieses Pseudorechtshändige "ICH" aufgeben zu müssen, da ist natürlich auch Widerstand, Sträuben und Trauer dabei...




Solange der Mensch lebt, lebt auch unser Gehirn. Das Gehirn ist nicht statisch, sondern wie andere Organe auch im ständigen Auf- und Umbau begriffen, die wir durch Training in die von uns gewünschte Richtung SELBER BESTIMMEN können.

D.h. Ich oder auch Du kannst selber entscheiden in welche Richtung Du Dein Gehirn veränderst. Du kannst Dein Gehirn z.B. durch Nikotin, Alkohol und schlechte "Psychohygiene" schädigen - Du kannst Dich aber auch dafür entscheiden Dein Gehirn durch gesunde Ernährung, "Brain jogging", schöne Erlebnisse, Spaß und Freude haben etwas gutes zu tun. Meist ist es ja verpönt sich selber "gut" zu tun.




Ich Wünsche Dir jedenfalls Kraft und Mut auch Spaß und Freude erleben zu dürfen...